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Die Dinge mit den Augen des Anderen sehen

Jemanden zu begegnen, bedeutet, dass man eine andere Sicht auf die Dinge entdeckt und die Erfahrung macht, dass sich die eigene Weltbeziehung verändert. Charles Pépin erläutert: „Seitdem ich dich getroffen habe, stehe ich nicht mehr im Zentrum meiner Welt und bin auch nicht mehr jene Monade, welche die Welt nur aus ihrer eigenen Position heraus wahrnimmt. Jetzt sehe ich die Dinge auch mit deinen Augen.“ Eine Nachricht macht Schlagzeilen und man meint zu wissen, wie der Andere sie aufnehmen wird. Man nimmt an einer Konferenz teil und kann sich denken, welche Überlegungen der Andere dazu anstellen wird. Man hört ein Lied und glaubt zu wissen, ob es dem Anderen gefallen wird oder nicht. Charles Pépin ist Schriftsteller und unterrichtet Philosophie. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

Begegnungen sind verunsichernd und aufregend

Charles Pépin fügt hinzu: „Und wenn wir ins Kino gehen, schaue ich mir den Film auch mit deinen Augen an. Beim Verlassen des Saales bestätigst du meine Vermutung, dass diese eine Szene dich besonders berührt hat.“ Dass man einem Anderen begegnet ist und sich seine Weltsicht zu eigen gemacht hat, hindert einen selbst nicht daran, seine Vorlieben, seine Sicht, seine Anschauung zu behalten, aber sie werden um die des Anderen bereichert. Man hat den Film zwei Mal gesehen: nicht hintereinander, sondern gleichzeitig mit den eigenen und mit den Augen des anderen.

„Seitdem ich dich getroffen habe, nehme ich die ganze Welt gleich zwei Mal wahr“, erklärt Charles Pépin. Die Tatsache, nicht mehr im Zentrum der eigenen Welt zu stehen, ist verunsichernd und aufregend zugleich. Verunsichernd, weil man von seiner gewohnten Sicht auf die Dinge entrückt wird. Aufregend, weil man die Welt endlich anders sieht: Man entdeckt sie mit anderen Augen. „Durch den Blick des Anderen werde ich meiner Welt beraubt“, erklärte Jean-Paul Sartre.

Blickwechsel ermöglichen den Zugang zur Sichtweise des Anderen

Damit wollte der französische Philosoph die schmerzhafte Andersheit beschreiben, die nicht unmittelbar erfolgt. Eine mehrfach wiederholte Erfahrung des Blickwechsels ist notwendig, um Zugang zur Sichtweise des Anderen zu finden. Die Entdeckung der Andersheit verweist darauf, dass Begegnung stattgefunden hat und ihre Wirkung zu entfalten beginnt. Man weiß natürlich, dass der Andere existiert, es erfordert jedoch mehr, um ihm wirklich zu begegnen, um seine Andersheit zu erfahren.

Charles Pépin betont: „Wenn aber der Andere meine Geliebte, mein Freund, meine Partnerin wird, wenn ich eine Begebenheit nicht mehr erleben kann, ohne diese auch durch den Anderen wahrzunehmen, dann weiß ich, dass ich ihm wirklich begegnet bin: Ich mache dauerhaft die Erfahrung seiner Differenz, seiner Andersheit.“ Eine seltsame Erfahrung übrigens: Wenn der Andere wirklich anders ist, wie kann man sich dann an seine Stelle versetzen? Quelle: „Kleine Philosophie der Begegnung“ von Charles Pépin

Von Hans Klumbies

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